Novellen und Erzählungen : Band 4 (1908 - 1911) by Heinrich Mann
Autor:Heinrich Mann [Mann, Heinrich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erzählungen, Werke, Einzelband
Herausgeber: Verschiedene Quellen
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
V
»Warum ich so spät zum Essen komm? Ja, Muttchen, die Anprobe hat bis halb eins gewährt, und dann bin ich der Frau Doktor Harnisch begegnet. Du weiÃt ja, was die für âne alte Klatsche ist.«
Frau HeÃling vergaà ihren Zorn.
»Was hat sie denn gesagt?«
Gretchen brauchte gar nicht nachzudenken, bevor sie log. Sie war völlig aufgewacht. Das Leben war auf einmal schrecklich interessant; sie hatte ein Geheimnis, ein Gebiet, das nur ihr gehörte und wohin niemand sich getraute â als ob sie auf der Seite des Stadtgrabens Schlittschuh liefe, wo immer das groÃe Loch war. Die Damen Roché und Poppy konnten bei Frau Wendegast von ihr erzählen. Mathilde Bensch konnte aus dem Fenster gesehen haben: dann wuÃten alle, daà Gretchen mit Herrn Stolzeneck etwas hatte. Natürlich glauben sie dann, es sei ein Verhältnis; âºich würde es auch glaubenâ¹, gestand sich Gretchen; und ihr war fast schon zumut, als sei es eins. Das Herz klopfte bei jeder Erinnerung an ihn. Alles, was er zu ihr gesagt hatte, kehrte abwechselnd wieder.
»Was wirst ân egal rot?« fragte Frau HeÃling. »Papa meint es doch nicht so.«
Gretchen hatte nicht einmal gehört, was Papa sagte, und errötete noch tiefer. Aber dann machte sie Mathilde Bensch mit groÃer Gewandtheit schlecht: für den Fall, daà Mathilde sie verklatschen wollte.
Mittendrin hörte sie Herrn Stolzeneck sagen: âºMein Fräulein, das ist doch nicht für Damen.â¹ Zu ihr hatte er das gesagt, mit eben solch flotter Stimme und perfekter Anmut wie der Veilchenfresser; zu ihr allein. Es war, als hätte Gretchen selbst mitgespielt. âºOb ich nicht Talent hätte? Warum nicht. Weeà mersch denn?â¹ Sie hörte sich im Geiste grade so fein sprechen und sah an sich dasselbe gewandte Benehmen. Was sollte sie jetzt noch mit Klotzsche! Klotzsche, der über seinem Bierbauch Daumen drehte, der immer die halben Worte verschluckte und nicht ins Zimmer konnte, ohne an den Türpfosten zu rempeln.
»Du, Mama, mit Klotzsche tanz ich aber nich auf meiner Hochzeit, er schubst einâ immer mit seiâm Bauche.«
»Sei nicht so gemütlos!« verlangte Herr HeÃling aufgebracht, und Gretchen muÃte sich ducken.
Klotzsche aber konnte ihr nicht mehr imponieren.
Sobald sie allein im Zimmer mit dem Jugendstil saÃen, fing Gretchen an.
»Du, Sophus, daà duâs weiÃt, mich wirste nich um den Finger wickeln, ich bin ä modernes Weib.«
Da er hierauf nicht gefaÃt schien:
»Ich will alles kennenlernen. Glaube giedigst bloà nich, ich will hier immer in der Klappe hocken. Unsere Hochzeitsreise machen wir ganz gemiedlich mal nach Berlin. Nu sag ämal, ob du mich auch egal in alle Lokale mitnimmst. Schitze bloà keine Müdigkeit vor und sperr dei Mund auf!«
Klotzsche verwirrte sich unter Gretchens unnachsichtigem Blick. Aber er muÃte mit seinen Berliner Kenntnissen heraus. Er tat faul und vorsichtig. Gretchen ertappte ihn:
»Die Hauptsache haste weggelassen. Na? Na? Die Amorsäle doch! Schwörste, daà de mir die zeigen wirst?«
Klotzsche zögerte, er setzte zu Einwänden an. Gretchen schnitt sie ab.
»Du bist wohl ä Philister?«
Und Klotzsche versprach, Hals über Kopf, die Amorsäle. Ihr eigener Mut berauschte Gretchen.
Ȉ Philister, pfui Spinne, den nähm ich nicht. Ãberhaupt sollten wir Frauen alles dürfen, was ihr dürft. Ihr amüsiert euch egalweg, und kommt ihr zu uns, is nischt mehr da.
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